Methylphenidat und Sucht

1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Methylphenidat und Sucht aus pharmakologischer Sicht

Methylphenidat bzw. seine wasserlösliche Form Methylphenidathydrochlorid ist ein zentral wirksames Psychostimulans, das unter dem Handelsnamen Ritalin® bereits seit Jahrzehnten für kontroverse öffentliche Debatten sorgt. Erhebliche Zuwachsraten an Verordnungen haben mittlerweile dazu geführt, dass eine Reihe weiterer Methylphenidat-Produkte auf dem deutschen Markt sind (Concerta®, Equasym®, Medikinet®, Medikinet retard®, Methylpheniat Hexal®).

Chemisch handelt es sich bei Methylphenidat um ein Racemat des Methylphenylpiperidylacetat, von dem nur die rechtsdrehende Komponente biologisch wirksam ist. Obwohl sich Methylphenidat von Amphetamin und Kokain bezüglich seiner Strukturformel (siehe Abbildung 1) wie auch der Zugehörigkeit zu verschiedenen chemischen Stoffklassen unterscheidet, überlappen sich die klinischen Effekte der drei Substanzen in weiten Bereichen.

Abbildung 1: Strukturformeln von Methylphenidat, Amphetamin und Kokain im Vergleich

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Die Wirkung von Stimulanzien ist breit gefächert. Sie reicht im therapeutischen Spektrum von gesteigerter Aufmerksamkeit über günstige Veränderungen der Motivation mit verbesserter Impulskontrolle bis hin zur Reduktion motorischer Unruhe. Hinlänglich bekannt ist auch, dass Stimulanzien zur Leistungssteigerung, zur Gewichtsreduktion und zur Unterdrückung der natürlichen Schlafneigung missbraucht werden können.

Der Thematik dieser Arbeit folgend, wird die leistungssteigernde wie auch die appetitzügelnde Wirkung nur am Rande Gegenstand der Untersuchung sein. Im Mittelpunkt steht die Suchtentwicklung im Sinne der klassischen Suchtforschung, d.h. die Frage, ob Konsummuster, Missbrauch und Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol und illegalen Drogen durch die Behandlung mit Methylphenidat langfristig verändert wird. Aus neurobiologischer Sicht spielen die mesolimbischen dopaminergen Zellen des endogenen Belohnungssystem (sog. reward system) bei der Entstehung von Sucht eine zentrale Rolle. Neurofunktionell gilt der Nucleus accumbens als wichtigstes Kerngebiet des Belohnungszentrums (Carelli & Wightman, 2004). Gibt man einer Ratte die Möglichkeit, sich mittels Tastendruck durch eine im endogenen Belohnungssystem implantierte Elektrode selbst zu stimulieren, so macht sie davon exzessiven Gebrauch (van Wolfswinkel et al., 1988). Dem vermutlich euphorisierenden Effekt dieser Selbststimulation wird von dem Versuchstier oberste Priorität eingeräumt. Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme werden ebenso vernachlässigt wie die soziale Interaktion und der Sexualtrieb.

Ähnliche Effekte fand man in späteren Studien auch für Amphetamin, das von den Versuchstieren über Mikrokanülen direkt in den Nucleus accumbens appliziert werden konnte (Hoebel et al., 1983). Interessanterweise lässt sich die Eigenapplikation von Amphetamin durch 6-Hydroxydopamin, einem starken Neurotoxin, das die Dopaminspeicher entleert, unterbinden (Robbins & Everitt, 1999). Offensichtlich ist die Verfügbarkeit von Dopamin eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Sucht.

Die beschriebenen Verhaltensmuster bei Autostimulation von Versuchstieren wie auch die damit verbundenen neurobiologischen Mechanismen legen eine Analogie zu dem menschlichen Suchtverhalten nahe (Carr, 1984; Robbins & Everitt, 1999). Üblicherweise bekommt der Suchtstoff – beispielsweise Heroin – in dem Leben der Abhängigen

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höchste Priorität. Langjährige Beziehungen oder Kontakte zu Familienmitgliedern werden dem ‚Stoff’ nachgeordnet. Es kommt in der Regel zu einem sozialen Abstieg, wobei grundlegende Bedürfnisse wie Hunger- oder Durstgefühl ebenso vernachlässigt werden wie die Körperpflege und die Pflege sozialer Kontakte.

Die zentrale Bedeutung des endogenen Belohnungssystems bei der Entstehung von Sucht wird in der modernen neurobiologisch ausgerichteten Forschung allgemein in Form der sog. Modal-Hypothese (Robbins & Everitt, 1999) anerkannt. Die Modal- Hypothese besagt, dass eine Substanz nur dann ein Suchtrisiko haben kann, wenn sie direkt oder indirekt die mesolimbischen dopaminergen Zellen des Belohnungssystems beeinflusst.

Auch von nicht-stofflichen Suchtformen – wie beispielsweise der Spielsucht – wird angenommen, dass sie über das Reward-System vermittelt wird (Chau et al., 2004; Shizgal & Arvanitogiannis, 2003).
Nur wenige empirische Ergebnisse konnten bislang nicht mit der Modal-Hypothese erklärt werden. So fanden beispielsweise Koob und Moal (1997), dass Opiate neben der bekannten dopamin-vermittelten Wirkung zusätzliche Verstärkereffekte über den Nucleus accumbens entfalten, die von Dopamin unabhängig sind.

Die Frage nach potentiellen Suchteffekten von Methlyphenidat lässt sich mit der Modal- Hypothese sehr gut in Einklang bringen: Zum einen ist bekannt, dass Methylphenidat als reversibler Antagonist des Dopamintransporters hoch selektiv an dem dopaminergen System angreift (Ding et al., 1995), zum anderen zeigen PET-Studien, dass sich Methylphenidat primär in dem Reward-System anreichert (Volkow et al., 1995b).

Als weitere Bedingung für das Suchtpotenzial einer Substanz wird deren Pharmakokinetik angesehen (Ikegami & Duvauchelle, 2004; Ikegami & Duvauchelle, 2004; Swanson & Volkow, 2002; Swanson & Volkow, 2003). Je schneller ein Wirkstoff im Gehirn anflutet und je steiler der dadurch ausgelöste Anstieg der Dopaminkonzentration im Reward-System ist, desto höher wird das Suchtpotenzial eingeschätzt. Suchtkranke suchen den ‚Kick’, wie es in der Szene heißt. Neben den chemischen Eigenschaften einer Substanz wie der Lipophilie und dem Molekulargewicht spielt auch die Art der Aufnahme eine wichtige Rolle für das Suchtrisiko. Intravenöse

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Applikationen (z.B. Heroin) gehen mit rapide ansteigenden Dopamingradienten einher. Mit nasalen Applikationen (klassischerweise bei Kokain) lassen noch hinreichend steile Gradienten erzielen. Die orale Aufnahme führt in der Regel zu einem flachen Dopaminanstieg und wird daher von Drogenkonsumenten meist nicht eingesetzt. Bezogen auf die hier zu behandelnde Forschungsfrage des Suchtpotenzials von Methylphenidat gehen wir von der therapeutischen Form der Applikation und somit von der oralen Aufnahme in Tablettenform aus.

Auch wenn in dieser Arbeit Effekte der oralen Applikation von Methylphenidat untersucht werden, so muss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass die therapeutische eingesetzten Methlyphenidat-Tabletten pulverisiert und mit euphorisierender Wirkung nasal missbraucht werden können. In der Forschungsliteratur wurden einige dieser Missbrauchsfälle beschrieben (Garland, 1998; Jaffe, 1991). Bei einer Umfrage an einer Kunsthochschule in den USA gaben 12,7% der Studierenden an, Methylphenidat bereits nasal appliziert zu haben. Bislang ist ein Todesfall bekannt (Massello, III & Carpenter, 1999). Nur die an ein Polymer gebundene retardierte Formulierung von Methylphenidat bei Concerta® scheint einen hinreichenden Schutz vor der missbräuchlichen nasalen Applikation zu bieten (Jaffe, 2002). Auch intravenöse Formen des Methylphenidat- Missbrauchs sind bekannt, wobei es durch die Tabletten-Zusatzstoffe zu multiplen Organversagen bevorzugt als Talk-Granulomatose der Lunge mit pulmonaler Hypertension, als Retinopathie und als Arteriitis kommen kann (Still et al., 2001; Ward et al., 2000; Cook et al., 1998; Nakano et al., 1998; Stern et al., 1994; Carter & Watson, 1994; Debooy et al., 1993; Weinman & D’Agostino, 1993; Padley et al., 1993; Parran, Jr. & Jasinski, 1991; Mehta et al., 1984; Tse & Ober, 1980).

Hinsichtlich der Pharmakokinetik ähneln sich Methylphenidat, Amphetamin und Kokain (Vastag, 2001; Volkow et al., 1995a). Alle drei Substanzen werden bei oraler Einnahme zunächst über die Mundschleimhaut und die Schleimhäute des Gastrointestinaltraktes resorbiert. Anschließend gelangen sie sowohl direkt als auch über das Pfortadersystem vermittelt in den Blutkreislauf.

Wie alle Psychostimulanzien überwindet Methylphenidat schnell die Bluthirnschranke und bindet an den Dopamin-Transporter im Sinne eines reversiblen Dopamin-Reuptake-

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Inhibitors. Hinsichtlich der Selektivität der Bindung unterscheiden sich Methylphenidat, Amphetamin und Kokain (Schenk, 2002). Als einzige der drei Substanzen weist Methylphenidat eine hohe Selektivität für den präsynaptischen Dopamin-Transporter auf. Die Selektivität ist so hoch, dass Methylphenidat in der Nuklearmedizin in Form von 11C-Methylphenidat als Tracer für den Dopamin-Transporter eingesetzt wird (Volkow et al., 1995b). Amphetamin und Kokain binden weniger spezifisch, indem sie auch mit postsynaptischen Dopamin-Rezeptoren interagieren (Schenk, 2002).

Unterschiede in dem Wirkmechanismus zwischen Amphetaminen und Methlyphenidat zeigen sich auch bezüglich der Dopamin-Regulation auf vesikulärer Ebene. Während Metamphetamin eine akute und nachhaltige Entleerung der Dopamin-Vesikel bewirkt, verhindert Methylphenidat durch Interaktion mit dem vesikulären Dopamintransporter VMAT2 diesen Vorgang (Sandoval et al., 2002). Die nachhaltige Entleerung der Dopaminvesikel wird als Pathomechanismus der Neurotoxizität von Metamphetamin angesehen (Sandoval et al., 2003).

Im Rahmen einer Übersichtsarbeit kommen Kollins und Mitarbeiter (2001) zu dem Schluss, dass Methylphenidat aus pharmakologischer Sicht als potentiell suchterzeugend eingeschätzt werden muss. In einem späteren Übersichtsartikel (Kollins, 2003) korrigiert sich der Erstautor und betont, dass unter klinischen Bedingungen keine Suchteffekte für Methylphenidat nachgewiesen werden konnten. Kritisch muss hier eingewendet werden, dass weder Pharmakokinetik oder Pharmakodynamik noch die zentralnervöse Verteilung eines Wirkstoffs mit hinreichender Sicherheit über dessen Suchtpotenzial Aufschluss gibt. Beispielsweise erfüllt Bupropion aus pharmakologischer Sicht alle genannten ‚Suchtindikatoren’ (Katz et al., 2000; Terry & Katz, 1997), wird aber erfolgreich bei der Behandlung der Nikotinabhängigkeit eingesetzt (Lerman et al., 2004; Niederhofer & Huber, 2004; Talwar et al., 2004; Simon et al., 2004).

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1.2 MethylphenidatundSuchtaustierexperimentellerSicht

In der bereits erwähnten Übersichtsarbeit von Kollins und Mitarbeitern (2001) werden neben der pharmakologischen Evidenz auch tierexperimentelle und klinische Studien für die Einschätzung des Suchtpotenzials von Methylphenidat herangezogen. Die Autoren fanden bei 48 von 60 (80%) überwiegend tierexperimentellen Studien deutliche Hinweise auf ein erhöhtes Suchtrisiko. Als Operationalisierung des Suchtpotenzials bedienten sie sich klassischer Paradigmata aus der Suchtforschung: A) Eigenverabreichung, B) Stimulus-Diskrimination und C) subjektiver Effekte wie ‚craving’. Bei der Eigenverabreichung erhält das Versuchstier die Möglichkeit, sich mittels eines Dauerkatheters Methylphenidat zu applizieren. Das Suchtpotenzial errechnet sich aus der Differenz der Gesamtmenge pro Stunde abzüglich der von einem Vergleichstier applizierten Menge an physiologischer Kochsalzlösung. In 10 von 11 der analysierten Studien erfolgte die Eigenverabreichung intravenös. Eine Studie wählte eine intraperitoneale Gabe. Der Dosisbereich lag bei den Studien mit i.v.-Applikation zwischen 0,01 und 1mg Methylphenidat pro Kilogramm Körpergewicht. Über alle Studien hinweg ergaben sich deutliche Hinweise auf dosisabhängig vermehrte Eigenapplikation. In 6 Studien wurde parallel Kokain als zweite Wirksubstanz getestet. Dabei erwiesen sich die Applikationskurven von Methylphenidat und Kokain als nahezu identisch (Collins et al., 1984). Die Arbeiten legen den Schluss nahe, dass Methylphenidat ein dem Kokain vergleichbares Suchtpotenzial aufweist.

Neben der Eigenapplikation ist die sog. Stimulus-Diskrimination ein häufig in der tierexperimentellen Suchtforschung eingesetztes Paradigma. Dabei wird untersucht, ob das Versuchstier eine Testsubstanz von einer Vergleichssubstanz, auf die das Tier trainiert ist, unterscheiden kann. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob das Versuchstier beispielsweise Methylphenidat von Kokain oder anderen bekannten Suchtstoffen unterscheiden kann. Ist dies nicht der Fall, muss von einem ähnlichen Wirkspektrum bezüglich des Suchtpotenzials ausgegangen werden. Der Vorteil der Stimulus- Diskrimination liegt speziell für Psychopharmaka in der guten Übertragbarkeit auf den Menschen (Julien, 1997). Medikamente mit ähnlichen Merkmalen im tierexperimentellen Stimulus-Diskriminations-Test gehen in der Regel auch beim Menschen mit ähnlichen subjektiven Wirkungen einher.

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Kollins et al. (2001) fanden bei 90% der einbezogenen Studien hohe Übereinstimmungen im Stimulus-Diskriminations-Test für Methylphenidat, Kokain und Amphetamin.
Insgesamt ziehen Kollins et al. (2001) aus der in erster Linie pharmakologisch und tierexperimentell ausgerichteten Übersichtsarbeit den Schluss, dass Methylphenidat als Suchtmittel einzustufen sei.

Zwei Jahre später publizierte Kollins (2003) erneut einen Übersichtsartikel, der im wesentlichen auf den bisherigen Recherchen aufbaut, klinische Aspekte aber stärker berücksichtigt. Er kommt zu dem Schluss, dass im klinischen Setting keinerlei Hinweise auf suchtfördernde Effekte nach Methylphenidat-Behandlung zu finden sind. Angesichts der Diskrepanz zu seiner bisherigen Einschätzung verweist er auf mögliche Interaktionen mit dem Vorliegen einer ADHS. Die suchtbegünstigenden Effekte wurden vorwiegend bei gesunden Ratten nachgewiesen. Ob ähnliche Ergebnisse auch bei Tiermodellen für ADHS zu finden sind, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein (Adriani & Laviola, 2004). Bei den klinischen Studien verhält sich die Evidenzlage genau umgekehrt: Aus ethischen Gründen liegen keine Langzeitstudien über Methylphenidat- Behandlungen bei Gesunden vor. Die bisherigen Erkenntnisse speisen sich ausnahmslos aus Verlaufsuntersuchungen Erkrankter.

Mittlerweile zeichnen sich auch bei tierexperimentellen Studien mit gesunden Ratten Ergebnisse ab, die nicht mehr mit der suchterzeugenden Wirkung von Methylphenidat in Einklang zu bringen sind. Es handelt sich dabei insbesondere um die Studien der Arbeitsgruppe um Andersen (Andersen et al., 2002; Carlezon et al., 2003; Mague et al., 2005).

Interessanterweise wurde das experimentelle Design der Andersen-Studie (Andersen et al., 2002) fast identisch auch von einer anderen Arbeitsgruppe eingesetzt (Brandon et al., 2001). Im Vergleich beider Studien ergeben sich Widersprüche bezüglich der Ergebnisse. Brandon und Mitarbeiter (2001) fanden bei Ratten nach Methylphenidat- Behandlung eine erhöhte Neigung, Kokain zu konsumieren, während Andersen und Mitarbeiter (2002) den gegenteiligen Effekt beobachteten.

In der Brandon-Studie (Brandon et al., 2001) wurden die Ratten im Alter von 35 Tagen für 5-7 Tage intraperitoneal mit Methylphenidat behandelt und etwa zwei Wochen nach

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Beendigung der Medikation untersucht. In der Arbeit von Andersen et al. (2002) wurde die Behandlung etwas früher begonnen (20. Tag) und länger durchgeführt (15 Tage). Beide Studien setzten als Indikator für die Empfänglichkeit für die belohnungssteigernde Wirkungen von Kokain die durch den Suchtstoff induziert motorische Aktivierung ein. In der Arbeitsgruppe um Brandon wurde die Empfänglichkeit für Kokain durch Methlyphenidat gebahnt, während in der Studie von Andersen aversive Effekte von Kokain durch die Behandlung zu beobachten waren.

Beide Arbeitsgruppen untersuchten ihre Ergebnisse noch durch weitere verhaltensbezogene Paradigma und führten ergänzende neurobiologische Experimente durch. Die Ergebnisse der Ausgangsuntersuchungen konnten dabei jeweils bestätigt werden. So fanden Brandon et al. (2001) die suchtinduzierende Wirkung von Methlyphenidat auch in einem Experiment, in dem sich Ratten mittels einer Mikrokanüle selbst Kokain über die Jugularvene in den Körperkreislauf applizieren konnten. Die spontane Feuerungsrate der dopaminergen Zellen in dem ventralen Tegmentum des Mittelhirns wurde durch die Behandlung langfristig erniedrigt (Brandon et al., 2003). Die Autorin interpretiert diese Ergebnisse im Sinne der schon zuvor gefundenen erhöhten Empfänglichkeit für Kokain und somit im Sinne eines erhöhten Suchtrisikos.

Auch die Arbeitsgruppe um Andersen führten weitere verhaltensbezogene wie auch neurobiologische Experimente durch und konnte die ursprünglichen Befunde bestätigen. Zum einen wurde auf Verhaltensebene der sog. Platz-Präferenz-Test eingesetzt, bei dem der bevorzugte Aufenthaltsort der Ratte als Indikator für das Suchtrisiko dient. Die mit Methylpenidat vorbehandelten Ratten vermieden den Kokain-assoziierten Raum überzufällig häufig, was für den sucht-protektiven Effekt der Methlyphenidat-Behandlung spricht (Andersen et al., 2002). Auf neurobiologischer Ebene fanden Anderson et al. (2002) einen langfristigen Anstieg des CREB (cAMP response element binding protein) im Nucleus accumbens. Aus früheren Arbeiten (Carlezon, Jr. et al., 1998) war bekannt, dass ein Anstieg der CREB-Konzentration im Nucleus accumbens einen protektiven Effekt für die Suchtentwicklung hat.

Interessanterweise konnten die suchtprotektiven Wirkungen der Methylphenidat- Behandlung nur bei Tieren nachgewiesen werden, die deutliche vor der Geschlechtsreife behandelt wurden. Bei einer Behandlung nach der Pubertät kehrte sich der Effekt im Sinne eines erhöhten Suchtrisikos um (Andersen et al., 2002).

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Die beschriebenen Interaktionseffekte zwischen Behandlungsalter und Suchtentwicklung konnten auch neurobiologisch durch das Verhältnis der CREB- Konzentration und der Expression des GlucoseR2–Rezeptors (GluR2) gezeigt werden: Wurden die Tiere vor der Geschlechtsreife mit Methylphenidat behandelt, ging die suchtprotektive Wirkung mit einem langfristigen Anstieg von CREB bei niedriger GluR2- Expression einher. Wurde die Behandlung erst nach der Pubertät begonnen, stieg CREB wiederum an, war jedoch im Gegensatz zu der frühen Methylphenidat-Gabe auch mit einer deutlich erhöhten GluR2-Konzentration im Nucleus accumbens assoziiert (Andersen et al., 2002). Die Kombination aus erhöhtem CREB und einem Anstieg der GluR2-Konzentration interpretieren die Autoren im Sinne eines erhöhten Suchtrisikos.

In einer späteren Veröffentlichung (Mague et al., 2005) berichtete die gleiche Arbeitsgruppe zusätzlich von funktionellen Langzeiteffekten der Methlyphenidat- Behandlung. Nach Implantation einer Elektrode zur elektrischen Selbststimulation in das sog. mediale Bündel des Vorderhirns konnte gezeigt werden, dass die Reizschwelle dosisabhängig durch Kokain sinkt. Bei Ratten, die nach dem oben beschriebenen Schema mit Methylphenidat vorbehandelt waren, sank die Reizschwelle geringer ab als in der nicht behandelten Vergleichgruppe. Der Einfluß von Kokain auf das endogene Belohnungssystem wurde somit verringert. Dies, so die Interpretation der Autoren (Mague et al., 2005), ist als suchtprotektiver Effekt einzustufen.

Die Kontroverse über sich widersprechende tierexperimentelle Befunde wurde von Robbins in der Fachzeitschrift Nature Medicine aufgegriffen (Robbins, 2002). Nach Auffassung von Robbins muss das Alter bei Medikationsbeginn als wesentliche Erklärung für die abweichenden Ergebnisse interpretiert werden.

Für klinische Studien ergibt sich aus den tierexperimentellen Arbeiten die Notwendigkeit, bei Fragen nach möglichen Suchteffekten von Methylphenidat das Alter und die Geschlechtsreife des Patienten bei Behandlungsbeginn zu berücksichtigen.

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1.3 MethylphenidatundSuchtausklinischerSicht

Verglichen mit der pharmakologischen und tierexperimentellen Evidenz über eventuelle Suchtrisiken von Methylphenidat fällt die Datenlage für klinische Studien eher spärlich aus. Obwohl Methylphenidat seit über 40 Jahren eingesetzt wird und als das in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am gründlichsten erforschte Präparat gilt (Wilens et al., 2002). Die verfügbare Evidenz beschränkt sich weitgehend auf kurzfristige Effekte der Behandlung (Huss, 2004). Das längste placebo-kontrollierte Beobachtungsintervall wurden in der sog. Collaborative Multisite Multimodal Treatment Study of Children With Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder (MTA-Studie) (Arnold et al., 1997; Vitiello et al., 2001) mit 14 Monaten in den USA realisiert.

Die zuvor von der schwedischen Arbeitsgruppe um Gillberg veröffentlichte placebo- kontrollierte Studie über 15 Monate (Gillberg et al., 1997) kann für unsere Fragestellung nur sehr eingeschränkt verwendet werden, da mit Amphetamin behandelt wurde.
Die aus Sicht der Suchtforschung relativ kurzen Zeitintervalle von 14 bzw. 15 Monaten reichen in der Regel nicht aus, um Suchtrisiken zu analysieren. Längere kontrollierte Verlaufsstudien sind aber aus ethischen Gründen nicht durchführbar, da den Kindern im Placebo-Arm ein hoch wirksames Medikament vorenthalten würde (Vitiello, 2001b; Vitiello, 2001a). Auch muss bei längerfristigen Verläufen angesichts der hohen Effektstärken bei schnellem Wirkeintritt von einer relevanten Entblindungsrate ausgegangen werden (Huss, 2004)

Grundlage der hier zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über klinische Suchteffekte von Methylphenidat beschränken sich daher ausschließlich auf Beobachtungsstudien.

In den von Kollins et al. (2001) berücksichtigen Arbeiten über kurzfristige Methylphenidat-Effekte auf das Suchtverhalten von Versuchspersonen waren die Ergebnisse im Vergleich zu den Tierexperimenten uneinheitlicher. Ein erhöhtes Suchtrisiko ließ sich nicht ableiten.

Beispielsweise konnte Chait (1994) bei 35 gesunden Erwachsenen keine Präferenz in einem Auswahlverfahren zwischen Placebo und Methylphenidat nachweisen. Die

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verwendeten Dosierungen lagen zwischen 20 und 40 mg. Für D-Amphetamin wurde bei gleicher Dosierung und gleicher Studiendurchführung eine ähnliche Präferenz gefunden (Chait, 1994).
Die heterogenen Ergebnisse der klinischen Studien sind möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass die Methylphenidat-Präferenz von den biologischen Ausgangsbedingungen der Probanden abhängt. So konnten beispielsweise Roehrs et al. (Roehrs et al., 1999) zeigen, dass eine vorausgehende Einschränkung des Nachtschlafs auf vier Stunden die Präferenz für Methylphenidat gegenüber Placebo wie auch gegenüber dem generellen Verzicht auf eine Tablette deutlich ansteigen lässt. Bisher wurden in nur wenigen Studien langfristige Suchteffekte untersucht. Bei manchen Verlaufsstudien ergab sich die Möglichkeit, nachträglich das Suchtverhalten von Erwachsenen mit Behandlungsdaten aus der Kindheit in Beziehung zu setzen (z.B. (Biederman et al., 1999; Lambert & Hartsough, 1998)).

Hechtmann veröffentlichte 1985 eine Übersichtsarbeit (1985), in der alle bis dato verfügbaren Verlaufsstudien der damals noch als hyperkinetisch bezeichneten Kinder einbezogen wurden. Die Autorin findet dabei eindrückliche Belege für hohe Raten an Suchterkrankungen bei den betroffenen Kindern. Interessanterweise wurden Methylphenidat-Effekte in den damals verfügbaren Studien nicht berücksichtigt und auch in der Übersichtsarbeit findet dieser Aspekt keine Beachtung.

In späteren Studien wurden Methlyphenidat-Effekte – wenn auch bislang nicht als primäre Forschungsfrage, sondern nur im Sinne nachträglicher Sekundärauswertungen – meist berücksichtigt. So führten beispielsweise Lambert und Hartsough (Lambert & Hartsough, 1998) eine Nachuntersuchung mit 81% der Studienteilnehmer einer Feldstichprobe von ursprünglich 492 Probanden durch, die erstmalig 1974 im Rahmen einer ADHS-Prävalenzstudie erhoben wurden. In der ADHS-Gruppe fanden sich etwa doppelt so viele Raucher wie in der gesunden Kontrollgruppe (46% vs. 24%). Das Alter bei dem Konsum der ersten Zigarette unterschied sich nicht zwischen den Gruppen, der Zeitpunkt des regelmäßigen Konsums trat bei den von ADHS betroffenen Kindern jedoch deutlich früher ein. Der Anteil der Tabakabhängigen lag mit 40% in der ADHS- Gruppe ebenfalls deutlich über der Rate der Kontrollgruppe (19%). Über die Stimulanzienbehandlung erhält man nur spärliche Informationen. Weder Dosierung, noch Substanzgruppe oder das Alter bei Beginn der Behandlung werden mitgeteilt. Der

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Leser erfährt nur, dass 48% der Probanden aus der ADHS-Gruppe für mindestens 6 Monate Stimulanzien erhalten haben. Da es sich um keine Klinikstichprobe handelt, muss davon ausgegangen werden, dass die Patienten nicht nach Studienprotokoll, sondern im Rahmen der üblichen medizinischen Versorgung mit Medikamenten behandelt wurden. Es ist also anzunehmen, dass die Informationen über die Medikation retrospektiv über Dritte erhoben oder auf der Grundlage von Elternangaben erfragt wurden.

Darüber hinaus ergeben sich in der Studie methodische Probleme: Die Analyse der Methylphenidat-Effekte erfolgt ausschließlich in der Gruppe der Raucher. Damit ist nicht nachvollziehbar, wie groß der Anteil mit Methylphenidat Behandelten in der Gruppe der Nichtraucher ist. Innerhalb der Subgruppe der Raucher ist die Stimulanziengabe hoch signifikant mit schwereren Ausprägungen von Sucht assoziiert.

Außerdem muss in der Studie von Allokations-Fehlern (treatment allocation bias) ausgegangen werden. Es ist anzunehmen, dass insbesondere Probanden mit starker Symptomausprägung und einem eventuell damit verbundenen höheren Suchtrisiko mit Methylphenidat behandelt wurden. Die Ergebnisse dürfen daher keinesfalls kausal interpretiert werden.

Bei der 1999 von Biederman und Mitarbeitern veröffentlichte Studie (Biederman et al., 1999) handelt es sich ebenfalls um eine Sekundärauswertung an einer Stichprobe, die für anderer Forschungsfragen erhoben wurden. Da es sich aber um eine klinisch sehr gut evaluierte Studie handelt, kann die Arbeit als erste systematische Auswertung im Sinne unserer Forschungsfrage gelten. Es werden post hoc drei Gruppen verglichen: a) 56 medikamentös behandelte Kinder mit ADHS, b) 19 unbehandelte Kinder mit ADHS und c) 137 Gesunde. Die 19 unbehandelten Probanden berichteten bei der im Jugendalter durchgeführten Folgeuntersuchung signifikant häufiger Symptome von Drogenmissbrauch und –abhängigkeit. Erneut finden sich keine Angaben darüber, mit welchem Medikament behandelt wurde. In dem Text ist nur von ‚medicated’ die Rede, was sich bei der in den USA üblichen klinischen Vorgehensweise auf eine Vielzahl von Substanzgruppen beziehen kann. Darüber hinaus werden weder Dauer noch Dosierung der Medikation mitgeteilt. Auch über das Alter der Patienten bei Behandlungsbeginn liegen keine Angaben vor. Die Ergebnisse der Studie sprechen für einen ausgeprägten suchtprotektiven Effekt der Phamakotherapie: Das Risiko, das Vollbild einer

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Substanzabhängigkeit zu entwickeln, wurde durch die Medikation für die von ADHS betroffenen Probanden um 85% gesenkt.

Weitere Erkenntnisse lassen sich aus epidemiologischen Arbeiten ziehen. So konnten Fergusson und Mitarbeiter (2005) an einer 1.265 Kinder umfassenden neuseeländischen prospektiven Geburtskohorte signifikante Zusammenhänge zwischen Aufmerksamkeitsstörungen im Alter von 8 Jahren und Nikotinabhängigkeit im Alter von 18 Jahren nachweisen (r=.14). Ähnliche Zusammenhänge lagen auch für den Missbrauch und die Abhängigkeit von illegalen Drogen vor. Als wichtige Prädiktorvariable erwies sich das zusätzliche Vorliegen einer Sozialstörung im Kindesalter. Trotz der Vielzahl an Publikationen aus der Neuseeland-Studie wurden bislang keine Daten über Methylphenidat-Effekte veröffentlicht.

In neuerer Zeit wurde eine Meta-Analyse von Wilens und Kollegen (2003) über den Zusammenhang von Methylphenidat und Suchtentwicklung publiziert. Damit schien ein Endpunkt in der Diskussion um das Suchtpotential von Methylphenidat erreicht. Doch bereits eine erste Sichtung dieser Arbeit macht deutlich, dass der Zeitpunkt für eine Meta-Analyse als verfrüht einzuschätzen ist. Es wurden nur 6 Studien einbezogenen, deren Ergebnisse zum Teil auf vorläufigen Zwischenberichten beruhten. Darüber hinaus sind die Arbeiten als methodisch sehr heterogen einzuschätzen.

Wie zu erwarten, ist die Diskussion über das Suchtpotenzial von Methylphenidat erneut aufgeflammt (Renz, 2003). Anlass sind mündliche Mitteilungen von Bill Pelham auf einem Meeting der American Psychological Association am 3.8.2003 (Pelham, 2003). Dort wurden erste Ergebnisse einer naturalistischen Längsschnittstudie mit 363 Patienten vorgestellt. Davon konnten bislang ca. 70% der Studienteilnehmer nachuntersucht werden. Laut mündlicher Mitteilung von Pelham (2003) erwies sich die Stimulanziengabe als einziger Prädiktor für späteres Suchtverhalten. Die Effekte seien ebenso groß wie in der Studie von Biederman und Mitarbeitern (1999), wiesen aber in die entgegengesetzte Richtung. Verwunderlich ist, dass trotzt der starken Effekte, die Auswirkungen der Stimulanziengabe auf das Suchtverhalten im Rahmen einer Publikation von Pelham (Molina & Pelham, 2003) mit keinem Wort erwähnt wird. In dem Artikel wird die ADHS-Erkrankung selbst, nicht aber deren Behandlung mit Stimulanzien

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als Prädiktor für das Suchtverhalten ausgewiesen. Zuvor hatte die Arbeitsgruppe um Pelham suchtprotektive Effekte kommuniziert (Molina et al., 1999).
Bezüglich der heterogenen Datenlage muss betont werden, dass die meta-analytische Zusammenfassung von unsicheren Daten, diese nicht sicherer machen. Zum anderen muss auf den trivialen Umstand hingewiesen werden, dass vorläufige Daten deshalb vorläufig sind, weil sie die Endaussage einer Studie möglicherweise nicht repräsentieren oder im Extremfall sogar in die gegenteilige Richtung weisen.

Der aktuelle Kenntnisstand über den klinischen Zusammenhang zwischen Methylphenidat-Behandlung und Suchtentwicklung lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • –  Alle bislang verfügbare Evidenz basiert auf Sekundäranalysen. Prospektive Ergebnisse mit primärer Ausrichtung auf die Forschungsfrage existieren bislang nicht.
  • –  Die Studienergebnisse sind widersprüchlich, weisen aber keinesfalls in die Richtung einer durch Methylphenidat ausgelösten Suchtgefährdung.
  • –  Der Suchtverlauf ist komplex und setzt voraus, dass neben der Behandlung mit Methylphenidat weitere Einfußfaktoren berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang haben sich das Vorliegen einer zusätzlichen Sozialstörung und das Alter bei Behandlungsbeginn als wichtige Moderatorvariablen erwiesen.

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1.4 ADHSundSucht

Eine unbehandelte ADHS gilt als Risikofaktor für die Entwicklung von Suchterkrankungen (Biederman et al., 1997). Die Arbeitsgruppe um Shekim (1990) fand in einer klinischen Inanspruchnahmepopulation von 56 erwachsenen ADHS-Patienten bei 34% der Studienteilnehmer eine Alkoholerkrankung und bei 30% Missbrauch illegaler Drogen. Biedermann und Mitarbeiter verglichen 239 konsekutiv vorgestellte erwachsene ADHS-Patienten mit 268 Gesunden. Die Patienten der Indexgruppe litten seit der Kindheit an ADHS und erfüllten zum Untersuchungszeitpunkt bei durchschnittlichem Alter von 37,4 Jahren immer noch die Kriterien der Erkrankung. Die Lebenszeit-Prävalenz für Suchterkrankungen lag mit 55% deutlich über dem der Kontrollgruppe (27%). Ebenso waren die Raten für Störungen des Sozialverhaltens (24% versus 5%), antisozialer Persönlichkeitsstörungen (17% versus 6%) und depressiver Erkrankungen (26% versus 7%) signifikant erhöht.

Dass ADHS als Risikofaktor für die Entwicklung von Suchterkrankungen gelten muss, wird nicht mehr angezweifelt (Huss & Lehmkuhl, 2002b; Tannock, 1998; Taylor, 1900). Ob ADHS als eigenständiger Risikofaktor zu interpretieren ist oder ob die Entwicklung in die Suchterkrankung durch die bekannte Komorbidität mit Störungen des Sozialverhaltens erklärt werden muss, ist noch Gegenstand kontroverser Debatten (Taylor, 1990). Disney und Mitarbeiter (Disney et al., 1999) untersuchten in einer großen Zwillingsstudie querschnittlich den Zusammenhang zwischen Geschlecht, Sozialstörung und ADHS. Sucht trat in dieser Studie fast ausschließlich nur in Zusammenhang mit einer vorausgehenden Sozialstörung auf. ADHS erwies sich als Vorläufer der Sozialstörung, hatte aber keinen zusätzlichen Einfluss auf die Suchtentwicklung.

Da die Studie von Disney (1999) kein längsschnittliches Design aufweist, sollten die Ergebnisse mit Zurückhaltung interpretiert werden. In prospektiven Verlaufsuntersuchungen lassen sich neben dem über die Sozialstörung vermittelten Suchteffekt von ADHS auch zusätzliche direkte Einflüsse von ADHS auf das Suchtverhalten nachweisen (Milberger et al., 1997). Weitere Varianz wird durch das Suchtverhalten der Eltern aufgeklärt (Biederman et al., 2000).

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1.5 TheoretischerHintergrundfürdenEinsatzinnovativerMethoden

Angesichts der Komplexität unserer Forschungsfrage ergeben sich bei der vorgelegten Studie eine Reihe methodischer Probleme. Wir haben den Versuch unternommen, unter Zuhilfenahme moderner statistischer und messtechnischer Verfahren, wie auch durch zusätzliche Kreuzvalidierung der primären Zielparameter die Aussage der Studie so valide wie möglich zu gestalten.

Da es sich bei den eingesetzten Verfahren um in Deutschland bislang noch wenig verbreitete Methoden (Propensity Score Analysis) und um eine Neuentwicklung (Internationales Patent für Doppler-Radar) handelt, werden die Verfahren nachfolgend kurz erläutert.

1.5.1 Optimierte Kontrolle des Forschungsdesigns: Propensity Score Analyse

Wie bereits erwähnt, kommt für unsere Forschungsfrage der Goldstandard einer randomisierten kontrollierten Studie aus ethischen Gründen nicht in Frage. Es wird demnach nicht gelingen, den sog. Allokationsfehler (treatment allocation bias) mittels Randomisierung zu kontrollieren. Eine auf hoher publikatorischer Ebene im New England Journal of Medicine geführte Debatte zeigte (Benson & Hartz, 2000; Concato et al., 2000), dass man mit Beobachtungsstudien unter optimierten Durchführungsbedingungen gleichwertig Ergebnisse erzielen kann wie mit randomisierten klinischen Studien.

Dabei kommt der Kontrolle von konfundierenden Variablen eine zentrale Rolle zu. Bei randomisierten Studien geht man davon aus, dass sich die konfundierenden Variablen zufällig über die Experimental- und Kontrollgruppe verteilen und somit das Ergebnis nicht maßgeblich beeinflussen können (Joffe & Rosenbaum, 1999). Bei Beobachtungsstudien muss diese Kontrolle aktiv erfolgen. In der Folge ergibt sich als methodisches Problem, dass mit steigender Zahl berücksichtigter Kovariaten ein erheblicher Powerverlust eintritt. Daher musste man sich bislang auf die Kontrolle weniger konfundierender Variablen beschränken.

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Versucht man diesem Effekt durch größere Stichproben zu begegnen, läuft man Gefahr, die Studie für den Primärparameter zu ‚überpowern’. Wählt man hingegen einen regressionsanalytischen Zugang, tritt mit steigender Zahl an Prädiktoren das Problem einer fälschlich hohen Modellsättigung auf (D’Agostino, Jr., 1998).

Die Propensity Score Analyse überwindet diese Probleme durch ein zweischrittiges Vorgehen: Zunächst wird mit einer klassischen Regressionsgleichung oder einer Diskriminanzfunktion aus allen relevanten konfundierenden Variablen ein sog. Propensity Score (Bereich zwischen 0 und 1) berechnet, der für die kovariaten-bedingte Wahrscheinlichkeit steht, in die Behandlungs- oder Kontrollgruppe zu gelangen (1998). Diese Wahrscheinlichkeit wird dann in dem zweiten Schritt in der Hauptanalyse der jeweiligen Forschungsfrage berücksichtigt.

Erstmalig wurde die Propensity Score Analyse in der heute gängigen Form durch Rosenbaum and Rubin (1983; 1984) beschrieben. Grundlagen waren bereits von Cochran (1968) entwickelt worden. Joffe und Rosenbaum (1999) erweiterten das Verfahren auf Aspekte der Inferenzstatistik (Kupper et al., 1975).

Bei unseren Analysen wird beispielsweise bei der Berechung des Suchtverlaufs für den Nikotinkonsum zunächst aus einer Vielzahl möglicher konfundierender Variablen (z.B. Alter des Probanden, Suchterkrankung der Eltern, Störung des Sozialverhaltens, Alter bei Diagnosestellung) regressionsanalytisch ein Propensity-Score ermittelt. Dieser geht dann in dem zweiten Analyseschritt als Kovariate in ein Cox-Regressionsmodell ein, ohne die Power dabei wesentlich zu beeinträchtigen.

1.5.2 Optimierte Erfassung der Prädiktoren am Beispiel der motorischen Unruhe

Das neue Verfahren (Internationales Patent: Huss, Jenetzky 2003, WO03/096902 A1) zur Messung der Bewegung beruht auf dem Prinzip des Doppler-Effekts. Körperbewegungen bewirken eine Frequenzverschiebung von reflektierten Radarwellen. Die Frequenzverschiebung wird in einem Empfänger registriert und mittels einer elektronischen Schaltung in ein Rechtecksignal umgewandelt. Über den Parallelport eines handelsüblichen PC werden die Rechtecksignale ausgewertet und mit klinischen Vergleichsdaten in Beziehung gesetzt.

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Das Messgerät besitzt die Größe einer Zigarettenschachtel und registriert Bewegungen in einem Abstand von 0 bis 5 Metern. Der Messkegel (üblicherweise 70°) und die Empfindlichkeit des Geräts lassen sich variabel einstellen. Parallel zu der Doppler- Radar-Messung kann mit handelsüblichen Infrarot-Entfernungsmessern der Abstand zu dem Zielobjekt erfasst werden. Der Abstand des Zielobjekts dient einerseits zur Entfernungskorrektur der Bewegungsimpulse. Andererseits kann geprüft werden, ob die Bewegungen auf stetigen Entfernungsänderungen beruhen. Ist dies nicht der Fall, so wurde der Impuls nicht durch das Zielobjekt (Körper des Kindes), sondern durch ein anderes Objekt (z.B. eine weitere Person im Raum) ausgelöst. Solche Fremdimpulse können mit diesem Verfahren unterdrückt werden.

Als wesentliches Gütekriterium des Verfahrens ist der Umstand anzusehen, dass die Messung ohne direkten Körperkontakt aus größerem Abstand stattfindet und somit das Verhalten der Probanden nicht beeinflusst.

1.5.3 Optimierte Erfassung der Zielgröße ‚Sucht’ am Beispiel subjektiver und objektiver Parameter von Missbrauch und Abhängigkeit

Aus der Arbeitsgruppe um Biederman entstand ein Artikel (O’Donnell et al., 1998), der die Bedeutung der Frage nach der Validität suchtbezogener Daten in ADHS-Studien eindrucksvoll unterstreicht. O’Donnell (1998) berichtet, dass die Angaben zum Drogenkonsum von Probanden mit ADHS erheblich von den Angaben der jeweiligen Eltern abweichen (kappa für Drogenmissbrauch = .255). Mangels objektiver Parameter kann allerdings in der genannten Studie nicht entschieden werden, ob die Eltern- oder die Selbstauskünfte besser mit der Realität übereinstimmen. Es ist nur zu konstatieren, dass subjektive Angaben über den Drogenkonsum insbesondere bei ADHS-Patienten mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet sind.

Im Vorfeld unserer Studie wurden umfassende Recherchen zur Optimierung der Validität des primären Zielparameter ‚Sucht’ durchgeführt und veröffentlicht (Huss et al., 2000)

Ein gängiges Verfahren, die Datenqualität in der Suchtforschung zu verbessern, ist die parallele Erhebung subjektiver und objektiver Daten. Auf subjektive Angaben kann in der 28

Regel nicht verzichtet werden, da die Nachweisdauer objektiver Methoden nur kurz ist und das Konsummuster der vergangenen Jahre nicht mit hinreichender Genauigkeit abgebildet wird. Außerdem benötigt man zur Diagnosestellung für den schädlichen Gebrauch oder die Abhängigkeit von einer Substanz immer auch subjektive Angaben (z.B. Verlagen nach der Substanz, Unfähigkeit den Konsum zu unterlassen, negative Auswirkungen auf die persönliche Lebensgestaltung etc.). Damit können objektive Verfahren, selbst wenn sie ein langfristiges und korrektes Abbild des Konsummusters böten, subjektive Methoden nicht vollständig ersetzen.

Bei den objektiven Verfahren haben sich Urin- und Haaranalysen als Goldstandard durchgesetzt. Urinanalysen sind relativ kostengünstig, bilden aber nur kurze Zeiträume ab. Mit Haaranalysen lassen sich größere Zeitfenster erfassen. Da die Haarlänge jedoch stark variiert und bei unserer zu 91% männlichen Probanden überwiegend kurze, zum Teil eine Vollrasur zu erwarten waren, hätte dieser Zugang zu einer unakzeptablen Verzerrung der Datenlage geführt.

In den vergangenen 15 Jahren wurde eine Reihe von Studien durchgeführt, in denen subjektive Angaben mit objektiven Parametern verglichen wurden, um die Zuverlässigkeit von Befragungen in der Suchtforschung zu evaluieren (Babor et al. 1990).

In der Mehrzahl der Arbeiten konnte gezeigt werden, dass die subjektiven Angaben über das Konsumverhalten besonders für illegale Drogen zum Teil erheblich von den Wirklichkeit abweichen und durch Art und Kontext der Befragung sowie durch kognitive Prozesse und die Motivation des Befragten beeinflusst werden (Cook et al. 1995).

Meist gaben die Probanden geringere Konsummengen an oder leugneten den Konsum trotz nachgewiesener Drogen-Metabolite im Urin oder in den Haaren. Umgekehrt muss insbesondere bei Jugendlichen auch berücksichtigt werden, dass einige Probanden als ‚erfahren‘ gelten wollen und daher einen Konsum bzw. das ‚Ausprobieren‘ verschiedener Drogen fälschlicherweise bejahen (Babor et al. 1990).

Recht gut untersucht sind die Einflüsse des Untersuchungssettings. Werden beispielsweise straffällige Jugendliche im Gefängnis zu ihrem aktuellen Konsum illegaler Drogen befragt (Fendrich et al. 1994), so finden sich größere Abweichungen zwischen

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subjektiven Angaben und Urinbefunden als bei anonymen Feld-Befragungen (Cook et al. 1995).
Bei Patienten in einer üblichen psychiatrischen Aufnahmestation fanden sich gute Übereinstimmungen zwischen subjektiven und objektiven Daten. Wird hingegen eine Stichprobe von Suchtpatienten herangezogen, so fallen die Werte etwas ungünstiger aus (Brown et al. 1992).

Einen weiteren Einfluss auf die Validität subjektiver Daten hat die Anwesenheit einer bekannten Person bei dem Interview (z.B. Ehefrau, Freunde, Eltern) (Aquilino 1997). Dabei scheint auch der Beziehungsstatus zu der betreffenden Person eine Rolle zu spielen. Während die Anwesenheit der Lebenspartnerin bzw. des Lebenspartners in realitätsgetreueren Angaben der Probanden niederschlug, wirkte sich die Gegenwart einer anderen Person oder der Eltern ungünstig auf die Validität subjektiver Angaben aus. Dieser Effekt (auch als sog. ‚privacy-effect‘ bekannt) blieb auch erhalten, wenn anstelle des Interviews Fragebogen eingesetzt wurden (Aquilino 1997).

Weiterhin muss auch davon ausgegangen werden, dass sich die Art und Weise der Datenerhebung auf das Antwortverhalten auswirkt. Belkin und Miller (1992) konnten beispielsweise in einer Studie an 18 stationär behandelten Suchtpatienten zeigen, dass sich die Validität der subjektiven Angaben verbessert, wenn anstelle einer üblichen klinischen Anamnese ein strukturiertes Interview eingesetzt wird. Die zusätzliche Befragung von Personen aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis erbrachte keine Verbesserung der Validität subjektiver Angaben. Aquilino (1997) untersuchte zusätzlich die Validität von Fragebogenverfahren und Telefoninterviews und konnte zeigen, dass diese im Vergleich zu strukturierten Interviews schlechtere Ergebnisse erbrachten.

Als weiterer Einflussfaktor wurde das Maß an Anonymität untersucht, das bei einer Erhebung gegeben ist. Bei vollständiger Anonymität, so die nahe liegende Hypothese von Leonhard und Mitarbeitern (1997), werden realitätsgetreuere Angaben über den Drogenkonsum gemacht. Die empirische Überprüfung dieser Hypothese erbrachte jedoch das unerwartete Ergebnis, dass der Faktor ‚Anonymität‘ auf die Korrektheit der subjektiven Angaben keinen wesentlichen Einfluss hat. Die durch Anonymität erklärte Varianz betrug nur ein Prozent.

Schließlich sei noch der Faktor ‚Psychiatrische Komorbidität‘ erwähnt, der sich auf die Angaben zum Drogenkonsum direkt (z.B. kognitive Beeinträchtigungen) oder indirekt

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(z.B. nicht erkannte komorbide Suchtstörung bei Depression etc.) auswirken kann. Bislang wurden in diesem Zusammenhang fast ausschließlich schizophrene Patienten untersucht (Wilkins et al., 1991, McPhillips et al., 1997, Claassen et al., 1997). Insgesamt ergaben sich bei psychiatrischen Patienten mäßige bis schlechte Übereinstimmungen zwischen subjektiven und objektiven Daten. Möglicherweise spielen hier auch inhaltliche und formale Denkstörungen eine Rolle, die bei der Mehrzahl der untersuchten Patienten angenommen werden muss.

Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und speziell für die ADHS liegen unseres Wissens bislang nur zwei Untersuchungen über die Korrektheit subjektiver Angaben zum Drogenkonsum vor. Zum einen handelt es sich um die eingangs erwähnte Studie von O’Donnell et al. (1998), bei der Diskrepanzen zwischen den Angaben von Betroffenen und deren Eltern gefunden wurden. Welche Daten valider sind, kann jedoch mangels objektiver Parameter nicht überprüft werden. Bei der zweiten Studie handelt es sich um unsere eigene Arbeit (Huss et al., 2000), bei der unseres Wissens erstmals objektive Parameter in Form von Urinanalysen eingesetzt wurden.

Dabei kamen wir zu folgender Einschätzung der zu erwartenden Validität unserer Studie (Huss et al., 2000):

Günstige Effekte sind von folgenden Studiencharakteristika zu erwarten:

  1. 1.)  Aufgrund der Untersuchungsbedingungen (Forschungsprojekt) entfallen Abhängigkeits- und Erwartungssituationen, die zwischen Patient und behandelndem Therapeut bzw. Arzt auftreten können und als ungünstiger Faktor für die Validitätder subjektiven Angaben anzusehen sind.
  2. 2.)  Da sich die Befragungen im Feld gegenüber Erhebungen in einer Institution alsungünstiger erwiesen haben, wurde u.a. die Klinik als Untersuchungsort gewählt. Die Studienteilnehmer hatten jedoch keinen Patientenstatus, so dass von einem quasi-klinischen Setting gesprochen werden kann. Von diesem sind günstige Einflüsse auf Korrektheit der Angaben zu erwarten.
  3. 3.)  Der Drogenkonsum wird mittels eines strukturierten Interviews erfasst. Diese Technik erbrachte studienübergreifend die besten Übereinstimmungen mit den parallel erhobenen Drogenscreenings.31

Ungünstige Effekte für die Validität subjektiver Angaben zum Drogenkonsum erwarten wir aufgrund folgender Studiencharakteristika:

  1. 1.)  Das Interview wird nicht in Gegenwart einer dritten Person geführt, von dergemäß der bisherigen Forschung davon auszugehen ist, dass ihre Anwesenheit sich positiv auf die subjektiven Angaben des Probanden auswirkt (z.B. Lebenspartner).
  2. 2.)  Die Befragung erfolgt nicht anonym. Da der Anonymitätsfaktor sich jedoch als marginal erwiesen hat, werden keine ausgeprägt negativen Effekte aus dem Umstand der mangelnden Anonymität erwartet.
  3. 3.)  Hinsichtlich der psychiatrischen Komorbidität ist davon auszugehen, dass sich die häufig in Kombination mit dem ADHS auftretenden Sozialstörungen ungünstig auf die Ergebnisse auswirken. Drogenkonsum und Lügen sind mit Störungen des Sozialverhaltens inhaltlich assoziiert.
  4. 4.)  Die Impulsivität der Studienteilnehmer kann sich im Sinne eines spontaneren Antwortverhaltens positiv auf die Validität auswirken. Denkbar sind aber auch ungünstige Einflüsse durch die zu erwartenden Konzentrationsprobleme und die häufig mit ADHS assoziierte Zeitgitterstörung.

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